Look Both Ways (Gegen den Strich)
HD video, 10:45 min, 2013
Look Both Ways
für Eva Vuillemin
Wie eine Schlafwandlerin geht die junge Frau an den Waggons der U-Bahn vorbei, ohne dass man gesehen hätte, wo sie herkommt, ob sie einsteigen will oder grad ausgestiegen ist. Darauf werden wir zurückkommen müssen. Sie geht weiter, vorbei an den Tafeln und Werbeanzeigen. «Track 34», «Please take one», «Welcome Aboard» und auch unter dem Schild hindurch, auf dem es heisst, in Grossbuchstaben: «LOOK BOTH WAYS».
Doch der Blick der jungen Frau geht nicht in beide Richtungen, sondern schaut starr voraus. Immer der Nase nach, bis die ersten Passanten an ihr vorübergehen. Die andern laufen verkehrt und damit verkehrt sich alles. Der Blick voraus war immer schon ein Blick zurück. Der Film den wir sehen, läuft rückwärts, das schlafwandlerische Ausschreiten war eigentlich ein Krebsgang. Eine Minute lang haben wir uns getäuscht. Wir waren «on the wrong track», wie man im Englischen sagt: auf dem falschen Gleis.
Der Trick ist beinahe so alt wie das Kino selbst und verblüfft noch immer, wie man hier sieht. Schon um 1900 lässt Alice Guy im Film «Avenue de l‘Opera» die Menschen rückwärts über besagten Ort gehen. Der Film, gerade weil er in physikalischer Zeit arbeite, sei imstande die Zeit zu manipulieren, heisst es bei Friedrich Kittler. Die Zeitumkehrung liegt in der Natur des Mediums. Zeitgleich (sic!) aber entdeckt in Wien Sigmund Freud, dass auch die Psyche sich nicht an die physikalische Zeit halten mag. Auch im Unbewussten taucht das Frühere meistens erst später auf und verändert sich im Nachhinein. Nachträglichkeit nennt das Freud in seinem «Entwurf einer Psychologie».
So mögen sich beide, Film und Psychoanalyse, nicht damit begnügen, Vergangenes abzuspeichern, sondern inszenieren dessen irritierende Wiederkehr. Das Verdrängte kehrt zurück, oft genug im Rücklauf. Gewohnte Wahrnehmung verfremdet sich. So wird auch bei Eva Vuillemin über die Zeitumkehrung des Films die berühmte Grand Central Station zum ungewohnten Ort. Das vertraute Gewusel wird eigenartig, un-heimlich mit einem Wort und daran ändert sich auch nichts, wenn wir wissen, wie dieser Effekt technisch zustande kam. Kenntnis schützt vor Angst nicht oder, wie es bei Freud heisst: «…der Eindruck des Unheimlichen hat sich durch diese Aufklärung nicht im mindesten verringert.»
Wie auf jenen Wimmelbildern, welche die Kinder so lieben, sucht man in den long shots von Eva Vuillemins Film sie selbst, als jene Bildstörung in und mit der die Zeit anders tickt als im Rest. Dass dabei ihr Kleid in den Farben der Steinfliesen aufzugehen scheint, macht das Aufspüren noch schwieriger und reizvoller. Und zugleich ist es gar nicht sie, die verkehrt geht, sondern vielmehr die ganze Welt um sie herum. So wie in jenem Witz vom Autofahrer, der auf die Verkehrsdurchsage am Radio meint «Was heisst da ein Geisterfahrer sei unterwegs? Hunderte!» so scheint auch hier die Schlafwandlerin die Einzige, die weiss, wohin es geht. Sehen wir im Blick der Passanten Verwunderung über die junge Frau unter ihnen, die anders geht als der Rest? Müssten sie nicht eigentlich über sich selbst verwundert sein und ihre behenden Bewegungen ins Ungewisse in ihrem Rücken? Dank der Umdrehung des Films sehen wir, wie merkwürdig, wie unheimlich die menschliche Gestik eigentlich immer schon war, wie monströs es ist, eine Treppe hoch oder hinunter zu gehen, einen Rollkoffer zu stossen oder zu ziehen. Das Unheimliche entstellt zur Kenntlichkeit. Wir sehen die Kehrseite der Normalität: Look Both Ways; mit der jungen Frau als Medium. Wie das Medium in einer Seance ist sie die Unberührbare inmitten in der Menge. Sie lässt uns teilhaben an ihrer fremdartigen Wahrnehmung und entzieht sich dabei doch. Ist es das, was den Mann mit der Schirmmütze dazu treibt, sie berühren zu wollen, sie anzufassen an ihrem Rücken? Und dann muss er sie weiterschicken mit hilflos winkenden Händen. Wir möchten die Lust verlängern, die Lust an einem Ausnahmezustand. Doch die anderen können nicht mit. Sie haben, im Gegensatz zu ihr, zu grosse Angst davor, mutig vorwärts zu gehen ins Rückwärtsliegende. «Das Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit in der jeder einmal und zuerst geweilt hat.» schreibt Freud. Die junge Frau schreitet unter unserem Blick hindurch, wir selber stehen über ihr, wie jenes Schild am Anfang. Wo will sie hin? Sie geht uns dorthin voraus, wo wir hergekommen sind.
Fortschritt und Rückschritt
Zum Video von Eva Vuillemin „Gegen den Strich“, 2013
Ein Geisterfahrer? Tausende! wundert sich der Autofahrer, der gerade den Verkehrsfunk gehört hat. Das ist die kalauernde Reaktion. Die gebildete ist die Erinnerung an Benjamins neunte These Über den Begriff der Geschichte: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Eva Vuillemin hat Klees Engel in New Yorks Grand Central Station ausgesetzt. Ein nur etwas unirdisch anmutendes Wesen im hellen Regenmantel mit Turnschuhen, ohne Flügel und ohne offenen Mund und aufgerissene Augen schreitet durch den berühmtesten der New Yorker Bahnhöfe, den auch kennt, wer niemals dort war. Vuillemins Angelus Novus ist ein bewegtes Wimmelbild, in dem kein Sturm aus der Vergangenheit weht. Was wir sehen, sind nur rückwärtslaufende Männer und Frauen, die sich kreuzen und ausweichen und höchstens ganz selten einander sehr kurz berühren: Noch ist keine rush hour, kein Gedränge. Wollte unser Engel die Toten wecken und die zerschlagenen Trümmer zusammenfügen, müsste er vom Grand Central erst noch den 4er oder 5er southbound train der Subway bis Fulton Street nehmen. Vom Ausgang Fulton/Broadway ein Block in Richtung Westen.
Peter Schneider, Zürich/Berlin
Die zwei Autoren Johannes Binotto und Peter Schneider, die sich unter anderem mit Psychoanalyse befassen, wurden aufgefordert, eine schriftliche Reaktion zu der Videoarbeit „Look Both Ways/Gegen den Strich“ zu verfassen.